Christine de Pizan (1364 - 1430)

Frauen im 14. Jahrhundert
Christines Herkunft
Christines glückliche Ehe
Die Tür zum Unglück
Der Weg zu sich selbst
Christines Eintreten für die Frauen
Der Rosenroman
Christines Leben geht zu Ende
Nachruhm

 

 

 


Christine de Pizan unterweist ihren Sohn Jean (Miniatur aus d. 15. Jh.)

"Die Männer beanspruchen in jeder Hinsicht alle Rechte für sich, sie wollen eben beide Enden des Riemens für sich haben...."

so äußerte sich.... Alice Schwarzer? Gloria Steinem? Keineswegs!
Der Feminismus des 20. Jahruhunderts besitzt eine kämpferische Ahnfrau. Es war die Schriftstellerin Christine de Pizan, die im spätmittelalterlichen Frankreich ihre Stimme erhob und nachdrücklich für die Sache der Frauen eintrat. In einer Zeit, in der die wenigsten ihrer Geschlechtsgenossinnen lesen und schreiben konnten, analysierte und beschrieb sie klarsichtig die Situation von Frauen. Die autonome Existenz der Frauen, die heutige Feministinnen immer wieder beschwören, nahm Christine de Pizan mit ihrem eigenen Leben vorweg.
Simone de Beauvoir hat einmal gesagt: "Die freie Frau wird erst geboren...", womit sie meinte, daß sich selbst im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert Frauen noch immer an männlichen Wertvorstellungen und Lebensanschauungen orientierten. Doch schon vor 600 Jahren ermunterte Christine de Pizan Frauen, eigene Ideen zu entwickeln und sich nicht fremdbestimmen zu lassen. Wie kam sie zu so "unzeitgemäßen" Gedanken?

Frauen im 14. Jahrhundert

Das Mittelalter neigt sich seinem Ende zu. Für die Frauen in Europa, so meint man, hat diese Epoche Lobgesänge, Verehrung und Minnedienste durch edle Ritter gebracht. Doch die Wirklichkeit sah ganz anders aus.

"Die Frau kennt keine Treue. Glaube mir, wenn du ihr Glauben schenkst, wirst du enttäuscht werden....
Kluge Männer teilen darum ihre Pläne und Taten ihren Frauen am wenigsten mit. Die Frau ist ein mißglückter Mann und hat im Verleich zum Mann eine defekte und fehlerhafte Natur.
Darum ist sie in sich unsicher. Was sie selber nicht erhalten kann, versucht sie zu erreichen durch Verlogenheit und teuflische Betrügereien. Darum, um es kurz zu sagen, muß man sich vor jeder Frau hüten wie vor einer giftigen Schlange und dem gehörnten Teufel....
Die Frau ist genau gesagt nicht klüger, sondern schlauer als der Mann. Klugheit klingt nach gut, Schlauheit nach böse.
Darum ist auch in bösen und perversen Handlungen die Frau klüger, d.h. schlauer als der Mann. Ihr Gefühl treibt die Frau zu allem Bösen, wie der Verstand den Mann zu allem Guten hinbewegt."


So sprach der große Theologe Albertus Magnus und brachte damit die für das Mittelalter alles entscheidendende Position der katholischen Kirche auf den Punkt. Für Frauen war zu kaum einer Zeit die Kluft zwischen Wunschvorstellung und Realität so groß wie im Mittelalter. Die Frauenverehrung des Minnesang war der literarische Ausdruck einer höfischen Kultur, hatte aber mit der Realität nichts zu tun. Sie war ein Alibi für eine Wirklichkeit, die völlig anders aussah. Immerhin befand man sich an der Schwelle zum Zeitalter der grausamen Hexenverfolgungen, Frauenverachtung und Frauenhaß hatten Hochkonjunktur. Nur wenige Männer setzten sich dafür ein, daß Frauen geachtet würden, von gleichen Rechten ganz zu schweigen. Die Sprachlosigkeit der Frauen erklärt ihr gesellschaftlicher Status der Unterdrückung und Abhängigkeit. Doch nicht alle schwiegen...

"...in meinem Innern war ich verstört und fragte mich, welches der Grund, die Ursache dafür sein könnte, daß so viele und verschiedene Männer, ganz gleich welchen Bildungsgrades, dazu neigten und immer noch neigen, in ihren Reden, ihren Traktaten und Schriften derartig viele teuflische Scheußlichkeiten über Frauen und deren Lebensumstände zu verbreiten. ...allerorts, in allen möglichen Abhandlungen scheinen Philosophen, Dichter, alle Redner (ihre Auflistung würde zuviel Raum beanspruchen) wie aus einem einzigen Munde zu sprechen und alle zu dem gleichen Ergebnis zu kommen, daß nämlich Frauen in ihrem Verhalten und ihrer Lebensweise zu allen möglichen Formen des Lasters neigen."

Diese nachdenkliche Äußerung stammt von Christine de Pizan, einer Schriftstellerin, die in Frankreich lebte und um die Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert viele umfangreiche Werke verfaßte. Sie legte dabei eine enorme Vielseitigkeit bei der Auswahl ihrer Themen an den Tag. Doch zentraler Punkt ihrer Arbeit war und blieb das Frauenthema. Durch Christine wurde zum ersten Mal in der Geschichte die jahrtausendelange Unterdrückung und Benachteiligung der Frauen angeprangert; in einer Zeit, in der die wenigsten Frauen lesen und schreiben konnten, exponierte sich Christine de Pizan als eine Autorin, die sich nicht scheute, in Wespennester zu stechen, frauenfeindliches Schrifttum und auch die Frauenfeinde selbst zu attackieren. Die erste Feministin hat man sie deshalb genannt, sicher ist, daß der Gedanke, Frauen müßten eigene Vorstellungen über sich und ihr Leben entwickeln, Christine ihr Leben lang beschäftigt hat. Männer sollten nicht länger geistige Bevormundung ausüben und Frauen sich nicht länger fremdbestimmen lassen. Wer war diese Frau, die übrigens die erste Frau in der Geschichte war, die vom Schreiben nicht nur sich selbst ernährt hat, sondern auch ihre ganze Familie damit durchbrachte?


Christines Herkunft

Christine de Pizan wurde 1364 in Venedig geboren. Ihr Vater war Tommaso di Benvenuto da Pizzano, ein überaus gelehrter Mann, der bis 1356 Astrologieprofessor an der Universität von Bologna gewesen war. 1364 bekleidete er das Amt eines Rats der Stadt Venedig und erlangte solche Berühmtheit, daß gleich zwei europäische Könige, Ludwig von Ungarn und Karl V. der Weise von Frankreich seine Anwesenheit erbaten. Tommaso entschied sich für Frankreich, der französische Hof war damals das intellektuelle Zentrum in Europa. Er wurde Hofastrologe und königlicher Arzt.
Ab 1368 lebte auch die kleine Christine in Paris und verbrachte eine vermutlich recht unbeschwerte Kindheit in Kreisen der französischen Hocharistokratie. Ihr Vater förderte ihre Wißbegier und ließ sie lernen, was sie später als großes Privileg empfand; lediglich ihre Mutter vertrat etwas traditionellere Positionen. Diese Erfahrung ließ Christine zu einer überzeugten Befürworterin der Frauenbildung werden.

In Christines Buch "Die Stadt der Frauen" spricht die allegorische Figur Frau Rechtschaffenheit:

"Dein eigener Vater, ein bedeutender Naturwissenschaftler und Philosoph, glaubte keineswegs, das Erlernen einer Wissenschaft gereiche einer Frau zum Schaden; wie du weißt, machte es ihm große Freude, als er deine Neigung zum Studium der Literatur erkannte. Aber die weibliche Meinung deiner Mutter, die dich, wie es für Frauen gemeinhin üblich ist, mit Handarbeiten beschäftigen wollte, stand dem, entgegen, und so wurdest du daran gehindert, in deiner Kindheit weitere Fortschritte in den Wissenschaften zu machen."


Christines glückliche Ehe

Karl V. zieht in Paris ein (aus der Chronik Jehan Fouceuts, 1472)

Die Familie erfreute sich der Gunst König Karls V., sie war angesehen und wohlhabend. Anfang 1380 wurde Christine im Alter von 15 Jahren mit einem aufstrebenden jungen Mann aus der Picardie, Etienne du Castel, verheiratet. Diesen machte Karl V. sogleich zum königlichen Sekretär und Hofnotar, eine große Ehre für die Familie. Christine war glücklich. In rührenden Versen sollte sie später die große Liebe zwischen ihr und ihrem Mann preisen, die Zartheit und Behutsamkeit, mit der Etienne sich ihr in den ersten Nächten näherte, seine Treue und die Rückhaltlosigkeit, mit der er sie in allem was sie vorhatte, ermutigte. Kein Wunder, daß Christine ihr ganzes Leben lang den Ehestand befürworten sollte.
In den folgenden Jahren bekam sie drei Kinder, ein Mädchen und zwei Jungen.
Doch lange sollte dieses Idyll nicht währen: die Zeiten werden schwer, für Christine, für Frankreich....


Die Tür zum Unglück

Am 16. September 1380 starb König Karl V. von Frankreich. Die Pizans verloren damit ihren Gönner, was ihre soziale und finanzielle Position beträchtlich verunsicherte.

"Jetzt öffnete sich die Tür zu unserem Unglück und ich, noch jung, ging hindurch", schrieb Christine.

Frankreich stürzte der Tod des Königs ins Chaos; wieder einmal, in einem zerquälten, zerrissenen Jahrhundert. Der Thronfolger, Karl VI., war ein zwölfjähriger Knabe, die Regentschaft übten seine Onkel aus: machthungrige, auf ihren Vorteil bedachte Herzöge, die die Interessen ihrer eigenen Domänen vertraten und dabei ohne Rücksicht auf Verluste mit jedem paktierten, der ihnen nützlich erschien. Dabei hätte das Land nichts dringender gebraucht als Kontinuität und ein Minimum an Ruhe und Frieden. England und Frankreich zerfleischten sich gegenseitig im hundertjährigen Krieg. Der Anspruch des englischen Königs auf den französischen Thron, politische und harte wirtschaftliche Interessen, vor allem die reichen Handelszentren in Flandern betreffend, waren der Hintergrund. Für die bürgerkriegsähnlichen Feldzüge machtgieriger Pairs kamen die jahrzehntelang in Frankreich marodierenden Söldnerbanden gerade recht: für genug Geld waren diese Briganten für jedermann anzuheuern. Nach Waffenstillständen oder Friedensschlüssen hatten sich manche der desillusionierten Soldaten geweigert, das Militär zu verlassen. Sozial völlig entwurzelt terrorisierten sie die Zivilbevölkerung. Der größte Teil der Bevölkerung lebte in entsetzlicher wirtschaftlicher Not. Kriege, verwüstetes Land, rechtliche Unsicherheit, Verbrechen und alle Arten menschlichen Elends prägten die Zeit. Aufstände und blutige Unruhen waren die Folge. Zudem hatte man sich noch nicht von der Pest erholt, die in den 40er Jahren zwei Drittel der europäischen Bevölkerung dahingerafft hatte. Immer wieder flammte die grauenvolle Seuche auf. Die Menschen in Europa empfanden sich als furchtbar geschlagen, ohne Hoffnung und ohne Zukunft, ja, als geradezu von Gott verdammt. Der einzige Hort der Sicherheit für die mittelalterlichen Zeitgenossen, die christliche Religion, die in einem uns heute nicht mehr vorstellbaren Maß das Leben und die Gefühle der Menschen durchdrang, war zerstört. Die Kirche, die sich gebärdete wie eine weltliche Macht, grausam, besitzgierig und machthungrig, war in sich tief zerstritten: zwei Päpste rangen um die Macht, einer in Rom und einer in Avignon. Sie befehdeten sich aufs Giftigste, exkommunizierten sich gegenseitig und beraubten damit viele ihres seelischen Fundaments. Das päpstliche Schisma spaltete nicht nur Europa in zwei Lager, es griff auch tief in das Lebensgefühl der Menschen ein: wo war Gott, wo war Christus, in einer Kirche, deren Hauptbeschäftigung Intrigieren, Blutvergießen und Geldzählen war? Die Antwort der Aristokratie auf die Not der Zeit war unverhüllte Lebensgier, Pomp und Luxus in jeder Beziehung, Amouren und Tändeleien.

Die Hochzeit Karls des VI. mit Isabeau von Bayern hat Thomas von Pizan wohl noch miterlebt, doch Ende der achtziger Jahre starb der Vater Christines. Der glückliche Abschnitt ihres Lebens war nach Christines eigenen Angaben endgültig vorbei, als 1390 Etienne du Castel an einer Seuche starb und Christine als 25jährige Witwe mit drei kleinen Kindern, einer alten Mutter und einer weiteren unversorgten Verwandten zurückließ.

Christines Schmerz war grenzenlos, ihr ganzes Leben sollte sie um den Geliebten trauern.

"Allein bin ich, alleine möcht' ich sein,
alleingelassen hat mich mein Geliebter,
allein bin ich, ohn' Freund noch Meister,
allein bin ich, in Sorge und Verdruß,
allein bin ich, bedrückt und so sehr müde
allein bin ich, verlorener als irgendeine,
alleine bin ich, ohne meinen Liebsten ..."

 

Karl VI. belagert eine burgundische Stadt (Chroniques des Monstralat, um 1500)

 

Der Weg zu sich selbst

Da war niemand mehr, der Christine und die Ihren schützte: ihr Vater war auch schon tot und der junge König Karl VI. hatte Wichtigeres zu tun, als sich um eine Witwe zu kümmern.

"Und so hatte Fortuna mich bereits auf dem absteigenden Teil ihres Rades plaziert und führte Böses im Schilde, um mich gänzlich zu zermalmen..."

Christine lernte wirkliche Not, ja Hunger, kennen. Etienne hatte nicht viel hinterlassen und das wurde ihr auch noch von mitleidlosen Gläubigern streitig gemacht. Wovon leben? Die Augen ihrer Kinder und ihrer Mutter richteten sich auf sie. In zermürbenden Prozessen kämpfte Christine um ihre Rechte.

"Zeitweise sah ich mich an vier Pariser Gerichten klagend oder mit einem Verteidigungsprozeß befaßt. ...
Ah, mein Gott, wenn ich daran denke, wieviele Vormittage ich im Justizpalast vertrödelt habe und wie ich dabei im Winter vor Kälte fast starb - das alles, um meinen Gönnern aufzulauern, sie an meine Anliegen zu erinnern, sie um Unterstützung zu bitten."

Christine wurde klar, was es hieß, eine Frau zu sein, die sich in der Welt der Männer durchsetzen mußte. "Mein Gott, wie viele Belästigungen und widerliche Blicke, wie viel Häme aus dem Munde fetter betrunkener Männer mußte ich mir gefallen lassen!"

Die ganze Tiefe ihrer Lebenskrise mußte Christine ausloten. Sie wurde krank. "Ich liege krank im Bett, von heftigem Fieber geschüttelt..., mein Blick ist getrübt, die Stimme heiser, und schwächer schlägt schon mein Herz."

Tag für Tag kamen die Gerichtsbüttel, um ihre letzten Habseligkeiten zu holen, mit denen die Gläubiger befriedigt wurden. Doch Christine gab nicht auf, je stärker der Druck auf sie wurde, desto mehr stieg in ihr das Gefühl für ihre eigene Kraft. Sie entwickelte "männliche" Tugenden.

"Ich besaß plötzlich ein starkes und tapferes Herz
und wunderte mich darüber; dies zeigte mir jedoch,
daß ich wahrhaftig ein Mann geworden war."

Ohne männliche Stütze im Hintergrund brachte Christine die Ihren durch; dabei schloß sie Bekanntschaft mit ihrer eigenen Stärke. Sie begriff ihren Schicksalsschlag als Chance. Doch das Entscheidende war, daß sie ihr Ziel im Leben erkannt hatte.

"Kind, sei getröstet, denn du hast herausgefunden, was dein natürliches Bestreben ist."

"Je, Christine"

 

Christine begab sich auf den "Chemin de long estude", den langen Weg des Lernens. Sie las und studierte unermüdlich, während sie den Lebensunterhalt für sich und ihre Familie zunächst durch Abschreiben (der Buchdruck war noch nicht erfunden) verdiente. Doch seit Mitte der 90er Jahre schrieb sie selbst und schon bald sollte ihr selbstbewußtes "je, Christine", "ich, Christine" in einer erstaunlich breiten Palette von Werken von ihrer außerordentlichen Entschlossenheit erzählen.

"Ich habe damit begonnen, anmutige Gebilde zu ersinnen, und diese waren in meinen Anfängen ohne allzuviel Tiefgang. Dann aber erging es mir wie dem Handwerker, der mit der Zeit immer kompliziertere Dinge herstellt: in ähnlicher Weise bemächtigte sich mein Verstand immer außergewöhnlicherer Gegenstände; mein Stil wurde eleganter, meine Themen gewichtiger. Von meinen Anfängen im Jahre 1399 bis ins heutige Jahr 1405, das noch keineswegs einen Endpunkt meines Schaffens markiert, habe ich fünfzehn umfangreiche Bücher verfaßt (nicht mitgezählt habe ich hierbei andere, kleinere Texte, die rund 70 große Hefte füllen...)..."

Christine wurde sehr belesen, viele Stoffe und Personen ihrer dem Stil der Zeit entsprechend allegorischen Dichtungen entnahm sie den Werken berühmter anderer Dichter. Das hat ihr gelegentlich den Vorwurf eingetragen, sie kolportiere nur die Werke anderer.

"Auch wenn der Baumeister weder Maurer selbst weder die Steine noch die Materialien herstellt, aus denen er das Schloß oder Haus erbaut (...), so hat er doch die Materialien zusammengetragen, ihnen ihren je eigenen Platz zugewiesen, gemäß der Absicht, die er zu verwirklichen sucht. Genau so bin ich mit den Stoffen verfahren, aus den sich meine Abhandlung zusammensetzt; mir genügt es völlig, wenn ich sie so zu verwenden weiß, daß sie der Idee, die ich entwickeln will, dienen und diese verstärken."

Christines Eintreten für die Frauen                                  Isabeau de Bavière (1371 - 1435)

Christine wurde einigermaßen bekannt in den Kreisen der Aristokratie. Sie fand einflußreiche Gönner: die Herzöge von Burgund, Berry und Orleans, Onkel und Bruder des mittlerweile wahnsinnig gewordenen Königs Karl VI. schätzten und bewunderten ihre Arbeit; so beauftragte sie der Burgunder mit der Abfassung einer Biographie Karls V. Außerdem stand Christine Königin Isabeau nahe, so daß sie sogar versuchte, politisch Einfluß zu nehmen: am 5. Oktober 1405 schrieb sie einen Brief an Isabeau, in dem sie die Königin beschwor, alles dafür zu tun, daß wieder Frieden in Frankreich einkehren möge. Auch in ihrem zentralen Anliegen, der Situation der Frauen, wandte sich Christine an Isabeau. Wohl auf Grund ihrer eigenen Erfahrung beschwerte sie sich darüber, wie abscheulich schutzlose Frauen, besonders Witwen, von den großen Herren ausgeplündert würden. Christine hinterfragte die traditionelle Einschätzung von Frauen. Wie bei allem, was sie unternahm, ging sie auch hierbei systematisch vor.

"Da mich diese Dinge sehr beschäftigten, machte ich mich daran, mich selbst und mein Verhalten als Wesen weiblichen Geschlechts zu prüfen; und in ähnlicher Weise diskutierte ich mit anderen Frauen, die ich traf: mit zahlreichen Fürstinnen, einer Unmenge von Frauen aus den unterschiedlichsten sozialen Ständen, die mir liebenswürdigerweise ihre geheimsten Gedanken offenbarten, damit ich auf der Grundlage dieses Wissens und völlig unvoreingenommen abwöge, ob das, was so viele Männer über die Frauen verbreiten, zutrifft."

In ihren pro-weiblichen Schriften, vor allem im "Buch von der Stadt der Frauen" legte Christine ihre mutigen, dem Zeitgeist völlig widersprechenden Gedanken nieder. So erklärte sie, warum Frauen im Allgemeinen weniger wissen als Männer.

"Ganz offensichtlich ist dies darauf zurückzuführen, daß Frauen sich nicht mit so vielen verschiedenen Dingen beschäftigen können, sondern sich in ihren Häusern aufhalten und sich damit begnügen, ihren Haushalt zu versehen. Nichts aber schult vernunftbegabte Wesen so sehr wie die Praxis, die konkrete Erfahrung auf zahlreichen und verschiedenartigen Gebieten."

Warum aber lernen Frauen nicht mehr?

"...das hängt mit der Struktur der Gesellschaft zusammen, die es nicht erfordert, daß Frauen sich um das kümmern, was...den Männern aufgetragen wurde.... Es reicht, wenn sie den gewöhnlichen Pflichten, zu denen sie erschaffen wurden, nachkommen. Und so schließt man vom bloßen Augenschein, von der Bobachtung darauf, Frauen wüßten generell weniger als Männer und verfügten über eine geringere Intelligenz."

Von Natur aus, dessen war Christine sich vollkommen sicher, sind Frauen nicht unterlegen, ihnen werden lediglich nicht die gleichen Chancen gegeben.

"...wenn es üblich wäre, die kleinen Mädchen eine Schule besuchen und sie im Anschluß daran, genau wie die Söhne, die Wissenschaften erlernen zu lassen, dann würden sie genauso gut lernen und die letzten Feinheiten aller Künste und Wissenschaften ebenso mühelos begreifen wie jene. Zudem gibt es ja solche Frauen..."

Das Leben vorbildlicher Frauen zu schildern, war in Christines Zeit Mode. Viele Dichter taten dies, so z.B. der Italiener Giovanni Boccaccio, dessen Lebensbeschreibungen berühmter Frauen "De claris mulieribus" Christine sich zum Vorbild nahm. Das Material, aus dem ihre allegorische Stadt der Frauen gebaut ist, sind die Leistungen und Taten großer Frauen aus Sage und Geschichte. Dabei korrigierte Christine kurzerhand eine ganze Reihe frauenfeindlicher Charakterisierungen, die über Jahrhunderte unwidersprochen weitergegeben worden waren. So wird die unglückselige Xanthippe, die Frau des Philosophen Sokrates, lange Zeit der Prototyp des unerträglichen Ehedrachens, als vorbildliche, geduldige Ehefrau dargestellt. Am Beispiel der Babylonierin Semiramis, deren Heirat mit ihrem leiblichen Sohn als absolute Monstrosität verschrieen war, wies Christine darauf hin, wie zeitgebunden moralische Wertvorstellungen sind, eine für das Mittelalter unglaublich fortschrittliche Erkenntnis.

"Jedoch verdient es jene edle Frau, für diese gewaltige Verfehlung bis zu einem gewissen Grade entschuldigt zu werden, denn es gab damals noch kein geschriebenes Gesetz. Vielmehr lebten die Menschen nach dem Gesetz der Natur, das einem jedem gestattete, ohne daß er damit ein Verbrechen beging, das zu tun, was das Herz ihm eingab...."

Daß Männer kein Interesse daran haben, daß Frauen ihren Geist bilden und ihren Horizont erweitern, war Christine klar: weibliche Unwissenheit war bequem....

"...denn umso leichter beleidigen die Streithähne diejenigen, die sich nicht wehren..."

...mehr noch, sogar das löbliche Engagement der Frauen für ihre Männer wird von diesen böswillig mißinterpretiert.

" ... daß alle oder zumindest die meisten gemeinhin große Anstrengungen unternehmen, die Geschicke ihrer Hausgemeinschaft zu lenken und für alles zu sorgen, so gut sie es vermögen; alle sind sie so sehr darauf bedacht und darin so eifrig, daß es zuweilen manchen ihrer nachlässigen Gatten verdrießt: denn auf diese macht es den Eindruck, als wollten die Frauen sie allzu sehr dazu anstacheln und bewegen, ihren Pflichten nachzukommen. Die Männer behaupten, die Frauen wollten ihre Herrschaft an sich reißen und sie an Klugheit übertreffen; auf diese Weise verkehren sie in das Böse, was viele Frauen ihnen in bester Absicht zu verstehen geben."

Der Rosenroman

Höhepunkt in Christines Kampf für ihr eigenes Geschlecht war der Streit um den Rosenroman, die erste bezeugte Literaturdebatte Frankreichs, die sie mit auslöste. Der Rosenroman war damals das meistgelesenste Werk in der französischen Literatur, vor allem der zweite Teil, verfaßt von einem gewissen Jean de Meung, galt als die Bibel der Intellektuellen. Der erste Teil, im 13. Jahrhundert geschrieben, erzählt eine Liebesgeschichte, die ganz nach den Prinzipien der höfischen Liebe abläuft. Schauplatz ist eine Traumwelt, die von allegorischen Charakteren bevölkert ist. Ungefähr vierzig Jahre später schrieb Jean de Meung eine Fortsetzung, die das Werk in einer Sozialsatire enden ließ, sich von den Prinzipien der Frauenverehrung und der höfischen Liebe abkehrte und mit dem Thema Frauen und Liebe ausgesprochen gehässig und verächtlich umging. In der Beschreibung der körperlichen Liebe nahm Jean de Meung kein Blatt vor den Mund, was ihm ebenso wie sein Intellektualismus viel Beifall und Bewunderung einbrachte.

Christine hatte sich schon 1399 in ihrem "Sendbrief an den Gott der Liebe" gegen den Rosenroman des Jean de Meung ausgesprochen, vor dessen Lektüre warnte sie z.B. auch ihren eigenen Sohn Jean.

"Wenn du gut und züchtig leben willst, lies nicht das Buch der Rose!"

In der Kontroverse um den Rosenroman kämpfte Christine zusammen mit dem Pariser Theologen Jean Gerson gegen die frühhumanistischen Intellektuellen von der Pariser Universität, Jean de Montreuil und Pierre und Gontier Col. Ein öffentlicher Briefwechsel fand statt, in dem Christine in höflichem und moderatem Ton die literarischen Verdienste des Rosenromans würdigte, die Haltung des Autors Frauen gegenüber aber entschieden kritisierte. Als besonders entwürdigend empfand sie die offene Beschreibung der körperlichen Liebe und die zynischen Ratschläge, wie man sich am erfolgversprechendsten Frauen nähern sollte. Sie fühlte genau, daß dies, angesichts der Umstände, Frauen zu Objekten degradierte.

"Wenn Ihr wünscht, ihn zu entschuldigen, indem Ihr sagt, es gefällt ihm eben, eine hübsche Geschichte vom Höhepunkt der Liebe zu machen, indem er solche Bilder benutzt, so antworte ich, daß er uns da nichts Neues erzählt oder erklärt. Weiß nicht ein jeder, wie Männer und Frauen der Natur entsprechend miteinander geschlechtlich verkehren? Sollte er uns erzählen, wie Bären oder Löwen odr andere fremdartige Tiere miteinander kopulieren, so wäre das amüsanter Stoff für eine Fabel, aber er würde uns nichts Neues erzählen."

Die Gegner Christines nahmen ihr gegenüber die Haltung ein, die viele Männer selbstbewußten Frauen gegenüber an den Tag legen: herablassend und gönnerhaft. So z.B. Pierre Col:

"Oh, höchst närrische Anmaßung! Oh, Wort, zu früh und leichten Herzens ausgestoßen aus dem Munde einer Frau, um einen Mann so großen Verständnisses und gründlicher Bildung zu verurteilen, der nach intensiver Arbeit und reifer Überlegung solch ein edles Buch wie den Roman der Rose geschrieben hat.... So bitte ich dich, Frau mit großer Erfindungsgabe, daß du dir die Ehre bewahrst, die du dir erworben hast für das Ausmaß deines Wissens und deiner wohlgewählten Worte.... Paß auf, daß es dir nicht ergehe wie der Krähe, die als ihr Gesang gelobt wurde, begann, noch lauter als gewöhnlich zu singen, und dabei den Bissen, den sie im Schnabel hielt, fallen ließ."

Diese betont überlegene Haltung haben nicht nur Christines männliche Zeitgenossen eingenommen: noch in den 60er Jahren unseres Jahrhunderts hat ein Literaturwissenschaftler Christines Reaktionen im Streit um den Rosenroman als hysterisch bezeichnet. Christine selbst hatte damals ruhig und überzeugt ihren Standpunkt verteidigt.

"... es wäre sehr bedrückend für mich, so kriecherisch zu sein, daß ich nicht die Wahrheit auszusprechen wagte aus Furcht, sie könnte gegen mich verwendet werden. Denn auch eine klügere Person als ich könnte gut beraten sein, manchmal über etwas nachzudenken, worüber sie bis jetzt noch nicht nachgedacht hatte. Wie ein gängiges Sprichwort sagt: Es kann geschehen, daß ein Narr einem Weisen einen Rat gibt."

Durch die Debatte um den Rosenroman hatte Christine einen Grad an Bekanntheit und Ruhm erreicht, der nicht nur äußerlich ihr Leben erleichterte, sondern sie auch ermutigte, sich weiterhin ihrem großen Anliegen, der Verteidigung der Frauen gegen ungerechtfertigte Angriffe der Männer und der Ermutigung der Frauen zu widmen.

"Wahr ist jedoch, daß die Männer von den Frauen mehr Festigkeit verlangen, als sie selbst besitzen: denn sie, die sich ihrer Standhaftigkeit und ihres hohen Standes rühmen, sind doch nicht vor gewaltigen Fehlern und Sünden gefeit, und zwar verfallen sie diesen nicht aus Unwissenheit, sonder aus reiner Charakterschwäche, denn sie wissen ganz genau, daß sie auf dem falschen Wege sind; aber sie finden für alles eine Entschuldigung und sagen, zu sündigen sei nur allzu menschlich. Wenn sich aber die Frauen so verhalten und außerdem durch langwierige männliche Machenschaften dazu gebracht wurden, dann sind die Männer sofort mit dem Vorwurf der Schwäche und der Unbeständigkeit bei der Hand. Wenn es mir aber nun mehr als gerechtfertigt scheint, daß die Männer über die in ihren Augen so willensschwachen Frauen zu urteilen, dann dürfen sie sich aber ihre eigenen Schwächen nicht ohne weiteres durchgehen lassen, um gleichzeitig den Frauen etwas als großes Verbrechen anzukreiden, was sie bei sich selbst als geringfügiges Vergehen betrachten! Denn nirgends steht geschrieben, daß es allein ihnen, nicht jedoch den Frauen gestattet wäre, sich zu versündigen und daß die männliche Schwäche verzeihlicher wäre. Letztendlich maßen sie sich an, den Frauen nichts durchgehen zu lassen; aus diesem Grunde vergällen viele Männer den Frauen mit zahlreichen Vorwürfen das Leben. Des weiteren vermögen sie nicht die Stärke und die Beständigkeit der Frauen zu erkennen, die sich bereits darin zeigt, daß diese die unerbittlichen Vorwürfe der Männer ertragen. Die Männer beanspruchen also in jeder Hinsicht alle Rechte für sich, sie wollen eben beide Enden des Riemens haben."

Bei aller Fortschrittlichkeit blieb Christine jedoch ein Kind ihrer Zeit. Stets trat sie dafür ein, daß Frauen die Achtung und Gerechtigkeit zuteil werden sollten, die ihnen zustünden, doch sie dachte nicht daran, die grundsätzliche gesellschaftliche Position von Frauen zu verändern. Geduld, Tugendhaftigkeit, Fügsamkeit und vor allem Treue, waren Eigenschaften, die sie den Frauen wärmstens empfahl, ebenso, wie sie vor den Gefahren der außerehelichen Leidenschaft warnte. Bei der "folle amour", der "verrückten Liebe", seien es immer die Frauen, die draufzahlten. Eine Feststellung, die Klarsichtigkeit und praktischen Realitätssinn bezeugt. Christines Frauenbild war traditionell, sie respektierte die von Zeit und Sitte den Frauen gesetzten Grenzen und forderte auch die Frauen auf, dies zu tun. Generalisierende Angriffe und Schmähungen gegen ihr Geschlecht wies sie allerdings entschieden zurück.

Christines Leben geht zu Ende

Die Werke der Christine de Pizan wurden schon zu ihren Lebzeiten weit über die Grenzen Frankreichs bekannt. Über den Herzog von Salisbury, mit dem Christine bis zu dessen Ermordung befreundet war und der eine Zeitlang ihren Sohn Jean erzog, gelangten ihre Werke nach England. Doch ein Angebot des englischen Königs, nach London zu kommen lehnte sie ebenso ab wie das des Fürsten Visconti, nach Mailand umzusiedeln. Immerhin wurde ihr Handbuch der Kriegskunst in England noch Jahrhunderte lang bei der militärischen Ausbildung verwendet. Frankreich sah sie als ihre Heimat an, eine Heimat, in der die politische Lage immer verzweifelter wurde. Das von Bürgerkriegen und Aufständen zerrissene Land stand vor dem Zusammenbruch. Christine tat, was sie konnte, um die Lage zu verbessern. Doch ihre Aufrufe, ihre wiederholten Vorstellungen bei Königin Isabeau halfen gar nichts. 1418 resignierte sie schließlich und zog sich in das Prominentenkloster Poissy zurück, wo ihre Tochter Marie schon seit Jahren als Nonne lebte.

Elf Jahre verbrachte Christine nach eigenen Angaben "weinend hinter Klostermauern". Doch sie wäre nicht sie selbst gewesen, wenn sie endgültig aufgegeben hätte. Der große Durchbruch der Hoffnung kam 1429. Für Frankreich kam die Rettung in Gestalt eines einfachen Bauernmädchens und Christine sah in Jeanne d'Arc auch die große Hoffnung für die Frauen. Ein letztes Mal vernehmen wir ihre Stimme und diesmal jubelt sie:

"Hee! Welche Ehre für das weibliche Geschlecht! Daß Gott es liebt, ist offenbar, da doch dieses ganze große hündische Volk, durch welches das ganze Königreich verwüstet ist, durch eine Frau aufgescheucht und überwältigt wird, was hunderttausend Männer nicht getan hätten."

Das traurige Ende auf dem Scheiterhaufen der Jungfrau von Orleans hat Christine nicht mehr miterlebt. 1430 ist sie gestorben.

Nachruhm

150 Jahre lang war Christine de Pizan eine vielgelesene Autorin, dann geriet sie in Vergessenheit; erst im vorigen Jahrhundert beschäftigte man sich wieder mit ihr und würdigte ihr umfangreiches Werk. Und es stellte sich heraus, daß es auch Jahrhunderte nach Christines Tod Männer gab, die diese außergewöhnliche Frau kaum ertrugen. 1894 disqualifizierte sich der französische Literaturhistoriker Gustave Lanson folgendermaßen:

"...einer der vollkommensten Blaustrümpfe, die es in unserer Literatur gibt, die erste Vertreterin jenes unausstehlichen Geschlechts von Autorinnen, die über alles schreiben können und die während ihres ganzen lieben langen Lebens sich nichts anderes angelegen sein lassen, als die Beweise für ihren unermüdlichen Schreibfluß zu mehren, der ihrer umfassenden Mittelmäßigkeit entspricht."

Die meisten Kritikerinnen und Kritiker haben allerdings zu allen Zeiten das Werk und die Person Christines geschätzt und bewundert. Das, was Christine diesbezüglich über Jeanne d'Arc geschrieben hat, gilt ebenso für sie selbst:

"Nach deinem Tode wird ein charaktervoller, weiser Fürst kommen, der aufgrund seiner Vertrautheit mit deinen Werken sich wünschen wird, zu deiner Zeit gelebt und dich mit eigenen Augen erblickt zu haben."

Wie eine Signierung ihres Werkes nimmt sich eine andere Textstelle aus, in der sich Christine liebevoll an ihren Vater wendet:

"Christine de Pizan, die Dienerin der Wissenschaft, Deine Schülerin und Freundin, die sich in diesem Jahr redliche Mühe gab bei ihrem Tun."